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Osteopathie: Aspekte einer manuellen Heilkunde

[16.11.2020]

Was für eine bahnbrechende Erfindung! Mit einem bis heute unbekannten Verfahren gelang es dem niederländischen Naturforscher Antoni van Leeuwenhoek perfekte Glaslinsen herzustellen und damit Mikroskope mit einer bis dahin unerreichten Vergrößerung zu bauen. Mit ihnen entdeckte er 1675 Kleinstlebewesen, Bakterien und Protozoen und begründete damit die Mikrobiologie, die Wissenschaft und Lehre der Mikroorganismen.
 
Es sollte weitere 200 Jahre dauern, bis Forscher wie Louis Pasteur und Robert Koch belegen konnten, dass sich hinter zahlreichen Krankheiten – von der Lepra bis zur Tuberkulose – spezifische Mikroorganismen verbergen.
 
Damit war der Feind endlich ausgemacht, wurde auf Petrischalen herangezüchtet und konnte direkt bekämpft werden. Es  begann der Siegeszug der modernen wissenschaftlichen Pharmakologie mit ihren Schutzimpfungen, Antibiotika und Virostatika.
 
Diesem Siegeszug war allerdings ein Gelehrtenstreit vorausgegangen. Ausgefochten von jenen Vertretern, wie Pasteur, die die Mikroorganismen als zentralen Auslöser von Infektionserkrankungen sahen und jenen, wie Claude Bernard, die das Milieu, das Umfeld für sehr viel wichtiger hielten. „Die Mikrobe ist nichts, das Milieu ist alles", soll Bernard gesagt haben, denn für ihn war es das Milieu, das darüber entscheidet, ob sich Erreger darin vermehren können oder nicht.
 
Rahmenbedingungen korrigieren
Was hat dieser Exkurs in die Anfänge der Mikrobiologie und Pharmakologie mit der Osteopathie zu tun? Recht viel, denn er bringt den entscheidenden Unterschied zwischen Standardmedizin und Osteopathie auf den Punkt:
Während erstere krankheitszentriert arbeitet, also die Erkrankung direkt behandelt, versucht die Osteopathie das Umfeld oder allgemeiner formuliert, die Rahmenbedingungen zu ändern. Denn aus osteopathischer Sicht kann Heilung nur erfolgen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Ursächlich für eine Erkrankung, sind demnach veränderte Rahmenbedingungen. 
 
Das wesentliche Prinzip der Osteopathie lautet daher, die Ursachen für veränderte Rahmenbedingungen aufzuspüren und zu korrigieren. Das mag abstrakt klingen und doch definiert dieses Prinzip die gesamte Bandbreite der Osteopathie, ebenso wie ihre Grenzen und erläutert, wo eine osteopathische Behandlung anfängt und wo sie aufhört.
 
Wann immer also Rahmenbedingungen korrigiert werden können, ist die Osteopathie angezeigt. Das kann – auf den Organismus bezogen –  eine eingeschränkte Funktion sein, eine behinderte Beweglichkeit, eine mangelnde Versorgung. Kann den Bewegungsapparat betreffen, die Viszera, den Kopf, das zentrale und periphere Nervensystem, ebenso wie sämtliche Gefäßstrukturen und deren Flüssigkeiten – kurzum jede Struktur und jeder Bereich des Körpers.
 
Nicht helfen kann die Osteopathie hingegen dann, wenn das Korrigieren der Rahmenbedingungen nicht ausreicht, um eine Genesung zu initiieren. In der Notfallmedizin beispielsweise, wenn Organ- oder Gewebeverletzungen möglichst zeitnah behandelt werden müssen, spielen die Rahmenbedingungen erst im Anschluss eine Rolle, weil durch ihre Korrektur der Genesungsprozess aufrecht erhalten und beschleunigt werden kann. Hier kann die Osteopathie nur nachträglich begleitend helfen.
 
Damit ist auch klar, wann eine osteopathische Behandlung endet. Und zwar dann, wenn die Rahmenbedingungen korrigiert worden sind. Mehr kann der osteopathisch arbeitende Therapeut nicht leisten. Alles weitere obliegt dem Organismus selbst und seiner Fähigkeit zur Selbstheilung. Denn wie schon der Begründer der Osteopathie, Andrew Taylor Still (1828-1917) feststellte, „alle Heilmittel der Natur" befinden sich bereits im Körper selbst [1].
 
Eine andere Perspektive
Wenn aber der Fokus der eigenen Arbeit nicht auf der Krankheit liegt, sondern auf den Rahmenbedingungen, die deren Entstehen erst möglich gemacht haben und wenn es nicht darum geht, eine Krankheit zu bekämpfen, sondern den Organismus in seiner Auseinandersetzung mit einer Krankheit zu unterstützen, indem man die Rahmenbedingungen korrigiert, dann ändert sich die therapeutische Perspektive.
 
Dann geht es nicht darum, Krankheiten zu besiegen, sondern dann lautet die wesentliche Frage, was kann ich tun, um die Gesundheit meines Patienten wieder herzustellen? Heilkunde ist damit nicht mehr ein Kampf gegen etwas, sondern mehr ein schöpferischer Prozess für etwas. Osteopathisch arbeitende Therapeuten sind Gesundheitsoptimisten, deren sprichwörtliches Glas nie halb leer, sondern immer halb voll ist.
 
Diese andere Perspektive ist in ihrer therapeutischen Wirkung nicht zu unterschätzen, denn auch sie schafft ihrerseits andere Rahmenbedingungen. Beim Therapeuten, in der Art und Weise, wie er seinen Patienten und dessen Erkrankung wahrnimmt und osteopathisch behandelt, und beim Patienten in seiner Erwartungshaltung und der sich daraus ergebenden Compliance.           
 
Die eigenen Hände als einziges Instrument
Das augenfälligste Merkmal der Osteopathie ist der alleinige Einsatz der Hände. Osteopathen nutzen keine medizinischen Instrumente, führen keine invasiven Eingriffe durch und verschreiben keine Medikamente. Alles, was sie haben, sind – neben ihrer exzellenten Kenntnis der menschlichen Anatomie und Physiologie – ihre geschulten Hände. Sie sind Kommunikations- und Behandlungsinstrument zugleich.
 
Auch in der Standardmedizin werden die Hände eingesetzt, für die Perkussion oder um palpatorisch etwa Schmerzempfindlichkeit, Beweglichkeit und Elastizität von Strukturen und Organen zu bestimmen. Die osteopathische Palpation geht aber weit darüber hinaus. Denn sie dient nicht nur der Diagnose, sondern auch der Therapie. Dabei wechseln sich Diagnose und Therapie, also das „Hineinhorchen“ in den Körper mittels der Hände und das Anwenden osteopathischer Techniken, fortlaufend ab, so dass ein regelrechtes „Gespräch" mit dem Gewebe entsteht, dass erst dann beendet wird, wenn das Gewebe „zufrieden" ist und die Behandlung beendet werden kann.
 
Für dieses „Gespräch“ palpiert der osteopathisch arbeitende Therapeut Bewegung und Beweglichkeit der einzelnen Strukturen, um Veränderungen diagnostizieren zu können, lässt sich leiten von den Faszien, die alle Strukturen umgeben, spürt Kompensationen auf, folgt den auf- oder absteigenden Ursache-Folge-Ketten hin zu dem, was A.T. Still die (osteopathische) Läsion nannte [1]. Gemeint war damit, gemäß dem damaligen Stand der Medizin, eine mechanische Störung, die das freie Fließen der Körperflüssigkeiten, die Nervenbahnen und die Ausscheidungssysteme behindert. Diese Störung gilt es, zu beseitigen, damit der Organismus seine Gesundheit wieder selbst herstellen kann.
 
Von der Läsion zur somatischen Dysfunktion
In den darauffolgenden Jahrzehnten hat sich das Verständnis der osteopathischen Läsion gewandelt, weg von einem ursprünglich monokausalen, mechanischen Erklärungsmodell, hin zu einem multifaktoriellen nozizeptiven Modell, in welchem die Schmerz wahrnehmenden Nozizeptoren und deren Reflexe für Bewegungseinschränkungen verantwortlich sind und viszerale, immunologische sowie autonome Veränderungen auslösen [2]. Aktuell wird in der osteopathischen Forschung ein neurofasziogenes Modell diskutiert, bei dem neben den Nozizeptoren auch die Faszien eine wesentliche Rolle spielen [3].
 
Auch der Begriff selbst hat sich geändert, die ursprünglichen Läsion wurde in den 1960er Jahren in den USA in die bis heute gängige somatische Dysfunktion unbenannt [4]. Mit der Umbenennung wollte man seinerzeit das Erbringen osteopathischer Leistungen für Versicherungen und Öffentlichkeit verständlicher machen. Ein etwas unglücklicher Begriff, setzt doch eine Dysfunktion ihrerseits sie auslösende Ursachen voraus.
 
Vermeintliche Prinzipien
Überhaupt die Begrifflichkeiten: 1953 hatte ein „Spezialkomitee für osteopathische Prinzipien und osteopathische Techniken“ in Kirksville, Missouri, USA, vier Prinzipen erstellt, aus denen sich „ein ätiologisches Konzept, eine Philosophie und therapeutische Technik“ ableiten lassen sollten [5]. Diese Prinzipien werden weiterhin in der osteopathischen Weiterbildung unterrichtet und von Osteopathen gern vorgetragen, wenn es darum geht, die Eigenständigkeit der Osteopathie zu beschreiben.

Aber stimmen diese Prinzipien überhaupt? Das erste von ihnen lautet beispielsweise: „Der Körper bildet eine Einheit.“ Das klingt plausibel, taugt aber nicht, um damit eine personenzentrierte Heilkunde zu definieren, ist doch der einzelne Mensch weitaus mehr als nur sein Körper [6]. In der Praxis wird das zwar berücksichtigt und nimmt jeder Osteopath seinen Patienten als Individuum wahr, mit dessen eigenen Krankengeschichte, sozialem Umfeld und Beschwerden. Wozu aber dann ein Prinzip, dass sich nur auf den Körper beschränkt? Wahrscheinlich, weil es vor 70 Jahren bei der Erstellung dieses Prinzips vor allem darum ging, den biomechanischen Aspekt und damit die Bedeutung der manuell ausgeführten osteopathisch Diagnose und Behandlung zu betonen.

Tatsächlich wurde dieses Prinzip – genauso wie die übrigen drei  – 2002 überarbeitet und heißt es seitdem: „Eine Person ist das Ergebnis der dynamischen Interaktion von Körper, Geist und Seele.“ (A person is the product of dynamic interaction between body, mind, and spirit) [7]. Doch haben diese Anfang des Jahrtausends neu erstellten Prinzipien bislang nicht die notwendige Rezeption erfahren, weshalb weiterhin mit Ansichten von vor 70 Jahren argumentiert wird.
 
Gesundheitsmodelle
Worum geht es letztlich in der Osteopathie? Was bedeuten Gesundheit wieder herstellen und welches Verständnis von Gesundheit haben Osteopathen überhaupt?
 
In 2013 hat der osteopathische Weltverband Osteopathic International Alliance, OIA, sich zum Bio-Psycho-Sozialen Krankheitsmodell bekannt [8], wie es auch in der Standardmedizin vertreten wird. Demnach hat jede Krankheit immer eine biologische, eine psychologische und eine soziale, bzw. öko-sozio-kulturelle Komponente.
Folgt man diesem Modell – in der Standardmedizin wie in der Osteopathie – dann ist Gesundheit nur interdisziplinär herzustellen, indem man auf diese unterschiedlichen Komponenten möglichst gleichzeitig einwirkt.
       
Die Realität in der Medizin sieht anders aus: Die biologische Komponente steht im Mittelpunkt, Diagnose und Therapie sind meist ausschließlich nach ihr ausgerichtet. Die soziale Komponente – da keine Heilkunde – findet in der Regel keine Berücksichtigung, zudem sind interdisziplinäre Kommunikation und Verständigung erschwert, sprechen doch die (Organ-)Medizin und die Psychologie unterschiedliche Sprachen. Unabhängig davon ist das Bio-Psycho-Soziale Modell auf Krankheit ausgerichtet. Somit kann es nur schwerlich für eine Heilkunde herhalten, deren besonderes Merkmal eben darin besteht, dass sie nicht krankheitszentriert ist.
 
Aktuell wird deshalb in der Osteopathie ein anthropo-ökologisches Modell diskutiert [9]. Demnach interagiert der Mensch mit seiner Umwelt dank seines Organismus und dessen Funktionen. Gradmesser für die Gesundheit ist somit nicht das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein einer Krankheit, sondern die daraus resultierende Handlungsfähigkeit. Erst eine eingeschränkte oder fehlende Handlungsfähigkeit ist gleichbedeutend mit Erkrankung.
Ziel der osteopathischen Diagnose ist es deshalb, den Zusammenhang zwischen dem Organismus und Funktionen einerseits und der daraus resultierenden Handlungsfähigkeit andererseits festzustellen. Diese Handlungsfähigkeit gilt es, zu fördern bzw. wieder herzustellen. Ein zukunftsweisender Ansatz, der sich auch mit einer eingangs beschriebenen, die Rahmenbedingungen korrigierenden Osteopathie verträgt.
 
Ausblick
Als im Februar 2020 das Bundesverwaltungsgericht seine schriftliche Urteilsbegründung dazu vorgelegt hat, warum es einen sektoralen Heilpraktiker für Osteopathie letztinstanzlich ablehnt, begründete das Gericht diese Ablehnung unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass es „keine einheitliche Definition der Osteopathie, die allgemein anerkannt und verbindlich“ ist, gebe und dass die Osteopathie„nicht hinreichend ausdifferenziert und abgrenzbar“ sei [10].
 
So erfreulich die Ablehnung  des sektoralen Heilpraktikers für Osteopathie aus heilkundlicher Sicht auch ist, mit den aufgeführten Begründungen des Bundesverwaltungsgerichts können Osteopathen nicht zufrieden sein. Denn wie dieser Beitrag aufgezeigt hat, gibt es sehr wohl Modelle, die eine Differenzierbarkeit der Osteopathie beschreiben. Solche Erklärungsmodelle weiterzuentwickeln und zu diskutieren, ist eine ganz wesentliche Arbeit, die innerhalb der Osteopathie fortgeführt werden muss, damit sich die Osteopathie als eine eigenständige und zeitgemäße Form der manuellen Heilkunde behaupten kann.    
 
  
Danksagung
Der Autor dankt dem Philosophen Andreas Grimm aus Jena für den wertvollen Gedankenaustausch, ohne den dieser Artikel nicht hätte entstehen können.
 
 
Literatur:
[1] Still AT (1908) Autobiography of Andrew T. Still with a history of the discovery and development of the science of osteopathy. Rev ed. Kirksville, MO: published by the author
 
[2] Fryer G (2016) Somatic dysfunction: an osteopathic conundrum. Int J Osteopath Med 22: 52–63
 
[3] Tozzi P (2015) A unifying neuro-fasciagenic model of somatic dysfunction: underlying mechanisms and treatment – part I. J Bodyw Mov Th er 19 (2): 310–326. doi:10.1016/j.jbmt.2015.01.001
 
[4] Liem T (2018): Von A.T. Stills Theorie der osteopathischen Läsion zur somatischen Dysfunktion, in: Osteopath Med, Jg. 19, Nr. 3, S. 21-26.
 
[5] Special Committee on Osteopathic Principles and Osteopathic Technic by Kirksville College of Osteopathy and Surgery. The osteopathic concept. An interpretation. J Osteopathy 1953;60: 7e10.
 
[6] Evans, D W: Osteopathic principles: More harm than good? IJOM, 2013-03
DOI: 10.1016/j.ijosm.2012.08.006
 
[7] Rogers FJ, D’Alonzo Jr GE, Glover JC, Korr IM, Osborn GG, PattersonMM, et al.: Proposed tenets of osteopathic medicine and principles for patient care. J Am Osteopath Assoc 2002;102: 63e5.
 
[8] Mulholland-Licht M (2013) Osteopathy and osteopathic medicine: a global view of practice, patients, education and the contribution to healthcare delivery. OIA 142 E. Ontario St. Chicago IL 60611 USA
 
[9] Mayer, J (2019): Welches Gesundheitsmodell hat die Osteopathische Medizin? Teil 2: Eine osteopathische Sichtweise zur Gesundheit und zum Gesundsein, in: Osteopath Med Jg. 20, Nr. 3, S. 10-16.
 
[10] BVerwG 3 C 16.17, Urteil vom 10. Oktober 2019
https://www.bverwg.de/101019U3C16.17.0 (aufgerufen am 17.09.2020)
 
 
Christoph Newiger 
ist Gesundheitsjournalist und -autor aus München und beschäftigt sich seit 23 Jahren mit Osteopathie. Er ist Mitherausgeber einer osteopathischen Fachzeitschrift,  betreibt das Osteopathieportal osteokompass.de und ist im Vorstand der von ihm mitgegründeten Berufsvereinigung für heilkundlich praktizierte Osteopathie, hpO.



Berufsvereinigung für heilkundlich praktizierte Osteopathie, hpO.